Interview zur Entstehung des Romans „Sonntags fehlst du am meisten“ (Ullstein)

 
Caro ist Kriegsenkelin, genau wie Du – wie viel persönliche Geschichte ist mit in den Text eingeflossen?
Es sind schon viele persönliche Erfahrungen mit in den Text eingeflossen, obwohl Caro ganz anders ist als ich. Weder bin ich mit dem goldenen Löffel im Mund geboren worden, noch hatte ich jemals ein Alkoholproblem wie Caro. Aber auch wenn ich nicht aus einer reichen Unternehmerfamilie stamme, ist mir Caros Kindheit natürlich sehr vertraut. Wir Kriegsenkel sind doch alle in einer Welt großgeworden, in der es im Prinzip alles gab, erzogen von den Kriegskindern, die nichts hatten. Deshalb mussten alle immer ihren Teller aufessen, Lebensmittel wurden grundsätzlich nicht weggeworfen, Kleidung am liebsten im Schlussverkauf gekauft - eine Verschwendung, wie es sie heute gibt, war unseren Eltern, also den Kriegskindern, doch völlig fremd. Kein Wunder, nach allem, was sie erlebt hatten. Ich glaube deshalb hatte früher auch niemand ein Ohr für die Probleme der Kinder und Jugendlichen. Wer selbst als 14jähriger die Bombardierung Dresdens erlebt hat, der kann den Liebeskummer seiner 14jährigen Tochter vielleicht nicht so gut nachempfinden.

Welche Erfahrungen hast Du mit der Kriegskinder-Generation gemacht?
Mein Großvater, der selbst in zwei Weltkriegen als Soldat war, hat immer nur die vermeintlich lustigen Geschichten aus dem Krieg erzählt, Anekdoten von Kameraden und Fronturlauben und ähnliches. Er war nicht in der Lage, über das Grauen zu sprechen. Man muss sich mal überlegen, wie viele schwersttraumatisierte junge Männer damals aus Krieg und Gefangenschaft zurückkehrten, die niemals therapeutische Hilfe bekommen haben. Wie sollten die mit dem Erlebten und auch mit ihrer Schuld weiterleben? Sich in die Arbeit zu stürzen war das eine. Wahrscheinlich gab es keine Generation, die so viel gearbeitet hat, wie die der Kriegskinder. Einerseits weil das Land wieder aufgebaut werden musste, andererseits weil die viele Arbeit ja auch ablenkte. Ich habe einen Onkel, der sein Leben lang 14 bis 16 Stunden am Tag gearbeitet hat. Psychisch hatte er nie Probleme. Erst als er in Rente ging wachte er jede Nacht zur selben Uhrzeit schreiend auf. Immer um viertel vor zwölf, jede Nacht. Genau zu dieser Zeit war damals eine Bombe auf sein Haus gefallen und er hatte nur knapp überlebt. Jahrelang war er von der vielen Arbeit so müde, dass er von dieser Erinnerung nicht eingeholt wurde, erst als Rentner änderte sich das. Arbeiten war also sicherlich ein Faktor, um sich von dem Erlebten abzulenken. Der andere war der Alkohol, der in der Nachkriegszeit gesellschaftlich doch noch viel anerkannter war als heute.

Ist die traumatische Kriegserfahrung Deiner Eltern Gespräch? Oder herrscht tiefes Schweigen?
Meine Eltern haben immer betont, dass sie selbst keine traumatischen Erfahrungen gemacht haben. Wenn ich mir heute vorstelle, wie mein Vater mit dem Rad durchs völlig zerbombte Osnabrück zur Schule fuhr, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass das stimmt. Vielleicht wollten meine Eltern uns mit solchen Geschichten auch nicht belasten. Meine Mutter kann das Feuerwerk an Silvester jedenfalls kaum ertragen, weil es sie so an die Flakschüsse von damals erinnert. Allein das zeigt doch, was für eine seelische Last sie aus der Zeit mit sich trägt.

Inwieweit beruht die Erzählung auf realen Erlebnissen?
Natürlich spielen reale Erlebnisse durchaus eine Rolle. Die neue Nachbarschaft von Caro ähnelt zum Beispiel durchaus meiner eigenen und ich habe gerade bei den Frauen meiner Generation oft das Gefühl, dass es für sie sehr wichtig ist, die Fassade nach außen zu wahren. Vielleicht hat das auch etwas damit zu tun, dass wir Kriegsenkel sind, dass man uns als Kind immer gesagt hat, dass es keinen Grund zum Jammern gibt, weil es einem doch gut geht. Das beobachte ich in meiner Generation heute noch häufig, alle betonen immer, wie gut es ihnen geht. Aber auch wenn reale Erlebnisse eine Rolle spielen, so ist „Sonntags fehlst du am meisten“ doch eine fiktive Erzählung, so wie jeder Roman, der nicht ausgewiesen autobiografisch ist.

Kannst Du uns etwas über Deine eigene Kindheit erzählen?
Ähnlich wie Caro bin ich mit zwei Geschwistern aufgewachsen. Mein Vater ist in jungen Jahren schwerkrank geworden, weshalb ich ihn als den Menschen, der er eigentlich war, nie kennen gelernt habe. Ich kenne nur den schwerkranken Mann. Dadurch wurde ich zu dieser Vater-Tochter-Geschichte inspiriert. Denn auch wenn die Gründe, warum Caro ihren Vater nicht richtig kennt und erst im Laufe des Romans lernt, ihn zu verstehen, gänzlich andere sind als in meiner persönlichen Vater-Tochter-Geschichte, so verbindet uns doch die grundsätzliche Frage: wie gut kenne ich meinen Vater eigentlich wirklich? Welche Geschichte hat ihn geprägt, von der ich womöglich gar nichts ahne? Das sind spannende Fragen und gerade meine Generation hat nicht mehr ewig Zeit, die Antworten darauf zu finden.

Das Thema Vater-Tochter ist nicht immer ein leichtes, was hat Dich daran so gereizt?
Wir Töchter reiben uns ja in erster Linie an unseren Müttern. Mit der Mutter wird gestritten, diskutiert, besprochen und geschwiegen. Der Vater nimmt für uns eine andere Rolle ein und gerade für die Töchter meiner Generation blieb er häufig etwas außen vor. Familienoberhaupt und Familienernährer ja, aber Vertrauter? Selten. Hinzukommt, dass das Frauenbild unserer Väter, durch die Nachkriegszeit geprägt, von uns 70er Jahre Töchtern nicht mehr gelebt wurde. Viele Väter konnten das Verhalten ihrer Töchter nicht verstehen, überließen die Auseinandersetzung aber den Müttern und entfernten sich so von ihren eigenen Kindern. Ich habe viele Freundinnen, die zu ihren Vätern praktisch kein Verhältnis haben. Papa hat immer gearbeitet, die Familie war Mamas Sache, heißt es da. Das ist schade und ich wollte mit „Sonntags fehlst du am meisten“ versuchen, dem Verhältnis zwischen Vater und Tochter mehr Beachtung zu schenken.

Wieso steht das Mutter-Tochter-Verhältnis immer mehr im Mittelpunkt?
Weil die Mutter das natürliche Vorbild einer jeden Tochter ist, jedenfalls in ihrer Kindheit. Und weil es solche Phänomene wie Eifersucht und Konkurrenz zwischen Vater und Tochter nicht gibt, zwischen Müttern und Töchtern aber durchaus. Daher ist das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter in der Regel viel konfliktreicher und wird häufiger in Büchern thematisiert. Wenn man bei „Sonntags fehlst du am meisten“ die Passagen genau liest, in denen es um Caro und ihre Mutter geht, dann merkt man, dass das auch auf die beiden zutrifft, ihr Verhältnis hätte ebenfalls einen ganzen Roman füllen können. Aber ich wollte mich lieber dem weniger beachteten Vater-Tochter-Verhältnis widmen.

War das Vorbild von Karl Dein eigener Vater?
Nein. Wie oben schon erwähnt, war es aber durchaus meine eigene Vater-Tochter-Geschichte, die mich zu der Leitfrage des Romans inspiriert hat: wer ist mein Vater eigentlich wirklich?

Kommst Du selbst aus Köln, dem Rheinland?
Ich bin aufgewachsen in Osnabrück, lebe aber seit vielen Jahren in Köln. Caros neue Nachbarschaft ist mir also durchaus vertraut. :-)

Mir hat besonders gut Caro gefallen, ihr Leben ist voller Brüche und Probleme und trotzdem hat sie es geschafft, jahrelang die Fassade zu wahren, um schlussendlich zusammenzubrechen. Was hat Dich an dieser Figur besonders gereizt/interessiert?
Besonders gereizt hat mich die Frage, warum jemand so unglücklich ist, obwohl er doch scheinbar alles zum Glücklich sein hat. Caro ist gesund, intelligent, sieht gut aus, kommt aus vermögendem Hause und hat einen Vater, der ihr jeden Wunsch erfüllt – und ist dabei so unglücklich, dass sie Alkoholikerin wird. Viele reagieren im realen Leben auf solche Menschen mit Unverständnis, der Satz „die soll sich mal zusammenreißen“ fällt da nicht selten. Aber man muss eben keine schweren Traumata erlebt haben, um unglücklich zu sein, das habe ich nicht nur in meinem Psychologiestudium gelernt. Leid ist immer subjektiv – dafür steht Caro und das hat mich an dieser Figur, die vermeintlich auf der Sonnenseite des Lebens steht, so gereizt.

Caro, der es an nichts mangelte steht ihr Vater Karl gegenüber, der in seiner Kindheit alles entbehren musste – was glaubst Du macht diese unterschiedlichen Erfahrungswelten zum Problem?
Jeder Mensch wird geprägt von seinen Erfahrungen. Karl hat im Krieg schlimme Dinge erlebt und er hat mitansehen müssen, wie seiner Mutter und seinen Schwestern schlimmstes widerfahren ist. Er konnte die Frauen in seiner Familie nicht schützen, diese traumatische Erfahrung hat ihn geprägt wie keine andere. Daher will er jetzt vor allen Dingen seine Tochter beschützen. Caro aber wird in einer Zeit groß, in der die Emanzipation der Frau gerade so richtig in Bewegung kommt. Sie will nicht behütet und beschützt werden, sie will ihr eigenes Ding machen, was ihr Vater überhaupt nicht nachvollziehen kann. Beide Seiten verschweigen sich zu viel und so ist es ein langer Prozess, bis sie sich wieder annähern können.

Alkoholismus ist weit verbreitet, trotzdem redet keiner darüber; ist es ein Thema, was Dich selbst betrifft, was Du aus eigener Anschauung von außen kennst?
Tatsächlich ist ein lieber Freund von mir seit drei Jahren trockener Alkoholiker. Bei ihm konnte ich hautnah beobachten, wie er vom lustigen Partytrinker immer mehr in den Alkoholismus abrutschte – und keiner konnte ihn davon abhalten. Er hat mir viel von seinem Entzug und dem Umgang mit seiner Krankheit erzählt, auch von den Reaktionen seiner Familie und seiner Freunde. Davon ist sicherlich einiges in den Roman eingeflossen. Auch sonst beobachte ich in meinem Umfeld einen Umgang mit Alkohol, den ich manchmal erschreckend finde. Ich kenne einige, die nehmen sich vor, wenigstens an einem Tag in der Woche keinen Alkohol zu trinken und schaffen selbst das nicht. Um Missverständnissen vorzubeugen: die betrinken sich jetzt nicht jeden Tag besinnungslos, aber zwei, drei Gläser Wein oder Bier am Abend gehören dann zum Feierabend einfach dazu. Auffällig ist der Umgang mit Alkohol besonders dann, wenn man auf Partys oder Familienfeiern komplett abstinent bleibt und nur Wasser trinkt. Erstaunlicherweise kann das keiner einfach so hinnehmen, ein Schlückchen zum Anstoßen ist doch wohl das mindeste, heißt es dann. Für jemanden wie Caro sind solche Situationen natürlich immer wieder eine Herausforderung.

In deinem Roman verarbeitest Du das Thema Epigenetik, wie bist Du darauf gekommen und wie stehst Du dazu?
Meine Generation gilt als die letzte, die vom zweiten Weltkrieg geprägt ist – und das ohne ihn selbst erlebt zu haben. Wie funktioniert so etwas? Das hat mich schon lange interessiert. Wird der erlebte Schrecken tatsächlich vererbt oder prägt uns nur die Art und Weise, wie unsere (vom Krieg geprägten) Eltern mit uns umgehen? Ein spannendes Thema, bei dem die Forschung noch ziemlich am Anfang steht.

Fragen zum Schreiben/allgemeine Fragen:
Eigentlich schreibst Du Kriminalromane/Thriller – wieso hast Du das Genre gewechselt?
Ich schreibe nach wie vor auch Krimis und Thriller, vor ein paar Wochen ist gerade erst ein neuer Thriller von mir erschienen. Aber dieser Familienroman lag mir schon immer am Herzen. Vielleicht liegt es an meinem Alter. Jetzt, in den Vierzigern, merkt man doch sehr deutlich, dass man nicht mehr endlos viel Zeit hat, um seinen Eltern Fragen zu stellen und mehr über ihre Geschichte zu erfahren. Vielleicht habe ich mich gerade deshalb jetzt mit diesen Generationsfragen beschäftigt.

Welche Themen beschäftigen Dich, dass Du sie noch in Romanen verarbeiten wirst?
Momentan beschäftige ich mich viel mit den Konflikten, die zwischen Geschwistern herrschen. Warum legen wir unter Geschwistern unser Verhalten aus der Kindheit nicht als Erwachsene nicht? Das Konkurrieren um die Liebe und Anerkennung der Eltern kann man fast ein Leben lang beobachten – selbst wenn die Eltern längst verstorben sind. Dabei fällt auf, dass gerade unter Geschwistern häufig eine gewisse Sprachlosigkeit herrscht, sobald es um diese sensiblen Themen geht. Das finde ich sehr spannend, zumal es deutlich zeigt, dass die Menschen, die uns eigentlich am nächsten sein sollten, manchmal am wenigstens von den Dingen wissen, die uns wirklich beschäftigen.

Wie sieht ein typischer Arbeits-Schreibtag bei Dir aus?
Um kurz nach acht sitze ich jeden Morgen mit einer Kanne Tee an meinem Schreibtisch. Dann werden erst mal Mails beantwortet und kurz in die einschlägigen Online-Seiten geschaut. Um ungefähr halb neun fange ich dann an zu schreiben und arbeite bis 15 Uhr durch. Dann kommen meine Kinder nach Hause und der Computer bleibt für den Rest des Tages aus.

Du schreibst auch sehr erfolgreich Drehbücher (unter anderem aktuell Bettys Diagnose) – was sind für Dich die Unterschiede beim Schreiben? Macht es einen Unterschied, wie Du Figuren zeichnest?
Die Unterschiede sind sehr groß. In meinen Büchern könnte ich es im Sommer schneien und gleichzeitig den Kölner Dom in die Luft fliegen lassen – alles Dinge, die in einem Drehbuch nicht möglich sind (es sei denn man arbeitet in Hollywood…). Als Drehbuchautorin, gerade bei einer Serie, arbeite ich in einem viel engeren Korsett. Die Figuren gibt es in der Regel schon, ich muss ihre Charaktere bedienen, Kosten und Drehpläne im Auge behalten und immer darauf achten, was meine Figur in den Folgen davor schon gemacht hat (wer in Folge 20 ein Kind bekommen hat, sollte das in Folge 21 schließlich auch noch haben…). Insgesamt ist man in Romanen viel freier.

Was liest Du selbst am liebsten?
Ich lese alles und bin auf kein Genre festgelegt. Auf meinem Nachtisch liegen Krimis, Thriller, Romane und sogar Jugendbücher. Im Urlaub lese ich tatsächlich am liebsten Krimis und Thriller, jetzt im Herbst greife ich dafür lieber mal zu einem schönen Roman.

Gibt es (literarische) Vorbilder?
Nein. Aber es gibt Autoren, die ich sehr bewundere. An erster Stelle Jonathan Franzen.